Viele Bürgerinnen und Bürger schreiben uns derzeit, weil die Debatte um Thilo Sarrazins Äußerungen die öffentlichen Gemüter bewegt. Wir machen uns unsere Entscheidungen in dieser Sache nicht leicht. Dazu sind die Themen zu wichtig, die Thilo Sarrazin anspricht. Aber er hat mit seinen Äußerungen zu genetischen Identitäten von Völkern, Ethnien oder Religionsgemeinschaften eine Grenze überschritten und sich außerhalb der Partei- und Wertegemeinschaft der SPD gestellt. Deshalb hat der SPD-Parteivorstand einstimmig beschlossen, ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel eines Ausschlusses aus der SPD einzuleiten.
Das ist keine Absage an eine intensive Debatte über Integrationspolitik in unserem Land. Im Gegenteil: Die SPD hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit integrationspolitischen Fragen beschäftigt – sei es auf der kommunalen Ebene, oder auch im Bund. Einige jahrzehntealte Defizite sind abgeräumt worden: Es gibt endlich Integrationskurse, in vielen Städten gibt es Integrationsprojekte für Mütter von Schulkindern und viele ehrenamtliche Initiativen. Einiges ist uns gelungen, anderes nicht. In diesem Punkt geben wir Thilo Sarrazin recht: Es liegt noch vieles im Argen. Eine kritische Debatte über den Stand der Integration in Deutschland, über erreichte Fortschritte, aber ebenso auch über fortbestehende Probleme und Defizite, ist dringend geboten und erforderlich.
Dabei müssen auch unbequeme Wahrheiten angesprochen und angepackt werden. Wir haben zum Beispiel noch immer teils erhebliche Bildungs- und Sprachdefizite bei jungen Migrantinnen und Migranten in unserem Land. Das darf nicht so bleiben. Vor allem Deutschkenntnisse sind die Grundvoraussetzung für Integration. Sie müssen wir frühzeitig fördern und immer wieder konsequent einfordern. Auch deshalb haben wir dafür gesorgt, dass Integrationskurse und Deutschkurse für Einwanderer mittlerweile Pflicht sind.
Und wir dulden auch keine Parallelgesellschaften und eine Abschottung von Bevölkerungsgruppen in unserem Land. Integration verlangt faire Chancen, aber auch klare Regeln. Unser Grundgesetz bietet Raum für kulturelle Vielfalt. Daher braucht niemand seine Herkunft zu verleugnen. Es setzt aber auch Grenzen, die niemand überschreiten darf, auch nicht unter Hinweis auf Tradition oder Religion. Integration ist immer ein Prozess, zu dessen Gelingen die Einwanderer sowie die sie aufnehmende Gesellschaft wechselseitig beitragen müssen. Und das meinen wir als Appell an uns alle! Es gibt noch viele Baustellen, an denen Bürger und Politik gemeinsam arbeiten müssen! Dafür wünschen wir uns auch Deine Mithilfe!
?So wichtig eine kritische Bestandsaufnahme der Integration in Deutschland aber auch ist: Sie muss in der Sache richtig und im Ton sachlich sein. Pauschalisierungen und Polemisierungen führen nicht weiter. Sie spalten, grenzen aus und erschweren so einen offenen, kritischen Dialog über bestehende Probleme und notwendige Lösungen. Wenn Thilo Sarrazin Zuwanderung mit „Landnahme“ in Verbindung bringt, vor einer „Übernahme“ von Staat und Gesellschaft durch Migranten warnt und muslimischen Migranten einen „wirtschaftlichen Mehrwert“ abspricht, dann schürt er Ängste und Vorurteile und vergreift sich klar im Ton. Für die Sozialdemokratie gilt aber, Ton und Haltung sind keine Nebensache, wenn es um Integration geht. Wer Probleme in unserem Land nicht verschärfen, sondern lösen will, der darf keine Vorurteile schüren.
Damit nicht genug: Thilo Sarrazin schreibt darüber hinaus in seinem Buch, dass Intelligenz und ebenso mangelnde Intelligenz wesentlich vererbt seien. Seine Schlussfolgerung hieraus: Deutschland werde im Durchschnitt dümmer, da vor allem die bildungsfernen Bevölkerungsgruppen in unserem Land Kinder bekämen. Als Lösung schlägt er dann unter anderem vor: Eine Prämie von 50 000 Euro für junge Akademikerinnen, die ein Kind bekommen. Eine solche Einteilung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit widerspricht unserer sozialdemokratischen Grundüberzeugung, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Für uns ist klar: Es gibt keine wertvollen und weniger wertvollen Menschen. In unserem Hamburger Grundsatzprogramm haben wir deshalb formuliert: „Wir streben eine Gesellschaft der Freien und Gleichen an, in der jeder Mensch seine Persönlichkeit in Freiheit entfalten kann, ohne die Würde und Freiheit anderer zu verletzen. Wir widersetzen uns jeder Form der Diskriminierung. Die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung und seiner wirtschaftlichen Nützlichkeit.“
Als Sozialdemokraten sagen wir klar: Das Leben ist offen. Die Entwicklung oder Charaktereigenschaften eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen sind nicht durch ein bestimmtes Erbgut vorgezeichnet. Es kommt vielmehr darauf an, durch Erziehung und durch gute Bildung die freien Entwicklungschancen eines jeden Menschen freizusetzen. Das ist die Grundüberzeugung unserer auf Emanzipation und Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität aufbauenden sozialdemokratischen Politik. Thilo Sarrazin hat diesen gemeinsamen Boden mit seinen jüngsten Äußerungen und Buchveröffentlichungen verlassen.