Europa steckt in einer Krise. Grundlegende und mutige Entscheidungen sind unausweichlich geworden. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier skizzieren in einem gemeinsamen Brief tragfähige Lösungen, die über den Tag hinaus Bestand haben und ein starkes Signal für die Zukunft der europäischen Einheit geben.
Liebe Genossinnen und Genossen,
die seit mehr als einem Jahr schwelende Schuldenkrise innerhalb der Europäischen Währungsunion hat in den letzten Tagen und Wochen ein neues Stadium erreicht: Angeheizt durch fehlende Entscheidungen der Regierungen der Eurozone ist aus den Zahlungsschwierigkeiten von Griechenland, das nur 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aller Euro-Länder repräsentiert, eine Krise der Währungsunion und, mehr noch, eine politische Krise der europäischen Einigung geworden. Die Finanzmärkte – getrieben von internationalen Rating-Agenturen – verlangen immer höhere Risikoaufschläge für ihre Bereitschaft, einzelnen und besonders überschuldeten Mitgliedern der Euro-Zone Geld zur Verfügung zu stellen.
In Deutschland und allen anderen Ländern der Eurozone wächst die Sorge um den erarbeiteten Wohlstand, um Erspartes und um die Alterssicherung. Und trotz aller drastischen Sparprogramme gelingt es Griechenland undi Portugal nicht, Defizite abzubauen und die Schuldentragfähigkeit wiederzugewinnen. Beide Länder stecken in einer Abwärtsspirale: Drastische Einschnitte nicht nur bei konsumtiven, sondern auch bei investiven Staatsausgaben verschärfen die Rezession. Griechenland musste mit höherer Arbeitslosigkeit und sinkenden Steuereinnahmen im ersten Halbjahr 2011 nicht weniger, sondern mehr Schulden machen. Auch für Portugal wird ein Minus des Bruttoinlandsprodukts in 2011 und 2012 prognostiziert. Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit schüren den Protest in Athen und Lissabon ebenso wie das Misstrauen in Deutschland. Kein Zweifel, Europa steckt in der Krise. In dieser ernsten Lage sind grundlegende, mutige und über den Tag hinaus gehende Entscheidungen unausweichlich geworden. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition aus
CDU,
CSU und
FDPmüssen ihre Politik ändern. Die Zeit des Wegduckens, der Vernebelung von Tatsachen, der Verschleppung von Entscheidungen und der Umgehung des Parlaments muss ein Ende haben. Wir brauchen tragfähige Lösungen, die über den Tag hinaus Bestand haben und ein starkes, unzweideutiges Signal für die Zukunft der europäischen Einheit geben. Die Bundesregierung muss sich daran orientieren, was zur Stabilität in der Währungsunion erforderlich und zur Überwindung der europäischen Krise möglich ist. Diese Lösungen müssen klar formuliert und im Deutschen Bundestag offen zur Abstimmung gestellt werden.
Unter diesen Voraussetzungen ist die Sozialdemokratie zum gemeinsamen konstruktiven Handeln bereit. Dies haben wir in einem Brief an die Bundeskanzlerin vom heutigen Tage zum Ausdruck gebracht. Die Haltung der SPD ist klar. Wir haben sie im Mai 2010 und nochmals im Juni 2011 im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht:
- Die Gläubiger von Griechenland werden auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen. Im Falle Griechenlands ist eine Umschuldung unausweichlich geworden. Über die Möglichkeit, Anleihen mit einem Abschlag vom Nennwert zurückzukaufen, kann das Land eine erhebliche Entlastung von untragbaren Zinskosten realisieren. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass sich die davon betroffenen Banken und Versicherungen refinanzieren können.
- Wir brauchen eine limitierte Gemeinschaftshaftung der gesamten Euro-Zone für die Anleihen ihrer Mitglieder. Sie ist erforderlich, um auf Dauer eine Beruhigung der Finanzmärkte zu bewirken. Über intelligente Modelle kann ein Teil der Schuld gemeinschaftlich besichert werden, während exzessive Verschuldung weiter im nationalen Risiko verbleibt.
- Wir müssen den betroffenen Staaten eine Perspektive für das Wiedererstarken ihrer Wirtschaft geben. Wir brauchen ein Europäisches Modernisierungs- und Wachstumsprogramm. Ohne Unterstützung durch die Europäische Union wird Griechenland nicht auf die Beine kommen. Und ohne eine solche Unterstützung werden die Menschen in Griechenland die unvermeidlichen harten Einschnitte nicht akzeptieren.
- Wir brauchen die Finanztransaktionssteuer. Sie dämmt auch spekulative Finanzgeschäfte ein. Vor allem aber leistet damit der Finanzsektor einen Beitrag zur Bewältigung der Krise, an der viele Marktteilnehmer lange gut verdient haben. Und wir müssen endlich die Regulierung der Finanzmärkte beherzt angehen.
- Wir brauchen mehr statt weniger Europa. Auf Dauer kann eine Währungsunion nicht ohne eine enge Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen funktionieren.
Nicht alle diese Forderungen werden sofort umgesetzt werden können. Aber ohne eine solche Perspektive werden wir nur die Symptome der Krise bekämpfen, nicht aber ihre Ursachen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die harten Sparprogramme in den von gravierender Überschuldung betroffenen
EU-Mitgliedstaaten sind unausweichlich. Klientelwirtschaft, Korruption und Steuerhinterziehung sind kompromisslos zu bekämpfen. Die Haushaltsführung von Ländern, die Hilfen der Euro-Staaten in Anspruch nehmen, muss strenger überwacht werden. Eine wirklich tragfähige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen braucht aber auch eine Entlastung von untragbaren Zinsaufschlägen und eine wirtschaftliche Innovations- und Wachstumsperspektive. In den Krisenländern muss die Hoffnung auf solides wirtschaftliches Wachstum und die damit verbundenen Arbeitsplätze zurückkehren. Das berühmte „Licht am Ende des Tunnels“ ist Voraussetzung dafür, die jetzt mit erheblichen Härten verbundenen Sparprogramme in den betroffenen Ländern durchzusetzen und das Vertrauen der Bevölkerungen in ihre demokratischen Regierungen und in Europa als Ganzes wiederherzustellen.
Und klar ist außerdem: Wer ein soziales Europa für die Menschen will, darf es nicht zulassen, dass einzelne europäische Mitgliedsstaaten zum Spielball von internationalen Finanzmarktspekulationen werden. Denn sonst nimmt die europäische Idee in allen Ländern irreparabel Schaden.
Deutschland hat ein eigenes Interesse daran, dass die Ungleichgewichte in Europa nicht noch weiter auseinandergehen. Ein gespaltener Kontinent, in dem einige wenige Länder im Norden prosperieren, die anderen aber immer weiter zurückfallen, wird die Währungsunion nicht sichern können. Das Auseinanderbrechen des Euro würde Deutschland einen sehr hohen politischen und wirtschaftlichen Preis abverlangen. Politisch würde sich die jetzt schon durch die Regierung Merkel verschuldete Isolation unseres Landes dramatisch verschärfen. Wirtschaftlich lebt Deutschland wie kaum ein anderes Land in Europa vom Austausch der Waren und Dienstleistungen. Fast Zweidrittel unseres Exportes geht in die Europäische Union, mehr als 40 Prozent direkt in die Eurozone. Nur in einem wirtschaftlich gesunden Europa werden wir unsere Fahrzeuge, die Produkte unseres Maschinenbaus, der Stahl- und Chemieindustrie, der Elektrotechnik oder unsere Dienstleistungen verkaufen. Wir haben ein großes Interesse daran, dass auch Länder wie Griechenland in die realwirtschaftliche Entwicklung investieren und beispielsweise bei Erneuerbaren Energien, aber auch in Transport und Logistik oder mit einer modernen, ökologisch nachhaltigen Tourismuswirtschaft eigene Stärken entwickelt. Auch viele deutsche Unternehmen sind in Griechenland aktiv und wären Partner für Innovation und Aufschwung. Ansätze und Chancen sind da. Die Bereitschaft zu harter Arbeit auch. Was fehlt, ist der politische Wille in Europa, jetzt ein ambitioniertes Projekt des Aufbruchs zu formulieren und ein Europäisches Wachstumsprogramm in die Wege zu leiten, das der Größe der europäischen Idee gerecht wird. Ein starkes Deutschland, das wirtschaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit miteinander verbindet, braucht starke Nachbarn in Europa. Der Wohlstand unserer Nachbarländer ist letztlich auch unser Wohlstand.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben uns deshalb vom Beginn der Euro-Krise an dafür eingesetzt, die notwendigen Sparmaßnahmen in den betroffenen Mitgliedsländern der Eurozone zu verbinden einer strikteren Regulierung der Finanzmärkte, wirksamen Entschuldungsprogrammen und Wachstumsimpulsen. Finanziert nicht durch immer höhere Beiträge der EU-Mitgliedsstaaten, sondern durch eine „Umsatzsteuer“ an den Finanzmärkten (Finanztransaktionssteuer). Wir wollen damit zugleich den Geburtsfehler des Euro beheben: das Fehlen einer koordinierten Finanz- und Wirtschaftspolitik in der gemeinsamen Währungszone. Dieses starke Signal hätte die Spekulationen der Finanzmärkte eingedämmt und nicht nur die betroffenen Mitgliedsländer stabilisiert, sondern Europa insgesamt.
Die Bundesregierung von CDU/CSU und FDP hat gemeinsam mit der übergroßen Mehrheit der konservativen Regierungen Europas dieses starke Signal bislang verweigert. Stattdessen wurden mutlos auf die kurzfristigen jeweiligen nationalen Eigeninteressen gesetzt. Im Ergebnis wurden die Anleger an den Finanzmärkten immer stärker irritiert und die Spekulationen angeheizt. Bundeskanzlerin Angela Merkel trägt mit ihrem taktischen Zögern und Zaudern dafür einen großen Teil der Verantwortung.
In der jetzigen Situation fallen zwei Krisen zusammen: die Überschuldungskrise einzelner Mitglieder der Euro-Zone und die politische Führungskrise innerhalb der Europäischen Union insgesamt. Längst hat sich daraus eine echte Vertrauenskrise entwickelt, denn selten standen die Bürgerinnen und Bürger der EU den europäischen Institutionen, den Parteien, Parlamenten und Regierungen Europas so skeptisch und ablehnend gegenüber wie heute. Antieuropäische Ressentiments nehmen zu und das Fehlen jeder Perspektive und Hoffnung treibt in den krisengebeutelten Mitgliedsstaaten die Anti-Europäer und Neo-Nationalisten in die Parlamente und Regierungen.
Deutschland als größter europäischer Volkswirtschaft kommt in dieser Situation eine besondere Bedeutung zu. Natürlich wünscht sich eine große Mehrheit unserer Bevölkerung nicht, dass sie mit ihren hart erarbeiteten Steuergeldern für die Fehler, die Korruption und die Unverantwortlichkeit anderer Regierungen in der EU aufkommen muss. Und auch in unserem Land wachsen die antieuropäischen Ressentiments. Gerade deshalb kommt es jetzt auch bei uns mehr denn je auf politische Führung an. Deutschland als der große politische Gewinner der europäischen Einigung nach dem zweiten Weltkrieg und als der ebenso große wirtschaftliche Gewinner der europäischen Währungsunion darf der gewachsenen EU-Skepsis nicht nachgeben. Wir tragen Verantwortung für den Fortbestand der Währungsunion und den Erfolg des gemeinsamen Europa!
Sigmar Gabriel (SPD-Parteivorsitzender)
Frank-Walter Steinmeier (Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion)